Leseprobe
Gerade überlegte Katja, in welchem der Bücher sie zuletzt gelesen hatte, als Inu im Wohnzimmer leise knurrte. Etwas, das dieser Hund nur sehr selten machte.
Sofort drehte Katja sich um und kehrte an die Seite des treuen Vierbeiners zurück. Doch es war nichts Auffälliges zu sehen. Nachdenklich legte Katja die Stirn in Falten. Kurz schloss sie die Lider und das Bild eines Schattens, der genau auf sie zukam, flammte in ihren Gedanken auf. Sogleich riss sie die grünen Augen wieder weit auf, doch zu sehen gab es noch immer nichts. Dafür aber zu hören: Ein lautes Rumoren kam von draußen, irgendjemand brüllte, dann hörte man einen heftigen Aufschrei.
Sofort stürzte Katja ans Fenster. Mehrere Laternen auf der Brücke flackerten erst, erloschen dann gänzlich. Kaum etwas war zu sehen in der Dunkelheit. Eine Gestalt schien über die Brücke zu rennen, gleichzeitig war der Wind zu hören, der in den Wipfeln der alten Bäume rauschte. Doch da war noch mehr. Es klang wie Flügelschlagen. Katja schreckte zusammen und sprang seitlich vom offenen Fenster weg. Ihr war, als käme etwas Riesiges auf sie zugeflogen! Sie irrte nicht, denn keine Sekunde später sauste ein Schatten ins Zimmer hinein. Zeitgleich brannten beide Glühbirnen in der Deckenlampe durch. Katja zischte unwirsch, doch es blieb keine Zeit, um sich darüber zu ärgern, dass sie auf das Sonderangebot im nahen Supermarkt hereingefallen war. Der Schatten war dicht an Katja vorbeigesaust und hielt jetzt zielstrebig auf die hintere Wand zu. Für den Bruchteil einer Sekunde war es Katja, als sehe sie große Schwingen, welche die Luft durchschnitten. Doch es war schwer, etwas auszumachen im schummrig dunklen Zimmer. Hinzu kam, dass sich gerade die Ereignisse überschlugen. Mit einem lauten Knall klatschte der Schemen, der herein gekommen war, gegen die Wand.
Ein Stöhnen war zu hören, dann verschwand der Schatten auch schon hinter der Couch. Endlich sprang Inu auf die Beine, hob den Kopf, knurrte aber nicht länger, sondern begann, etwas zu wittern.
„Inu, hier her!“, zischte Katja, doch der Hund hatte wie üblich seinen eigenen Kopf. Zielstrebig wanderte das Tier zum Liegesofa und verschwand dahinter.
„Verflucht noch mal!“, fauchte Katja und die Angst, die ihr in die Glieder gekrochen war, wich sofort ihrem Tatendrang. Sie musste etwas unternehmen und ihren Hund vor dem Unbekannten retten – was auch immer da hereingekommen war.
„Bestimmt ist es nur eine verirrte Krähe! Eine nachtblinde Eule, oder im schlimmsten Fall eine Fledermaus!“, machte sich Katja selbst Mut und tastete sich an der seitlichen Wand des Zimmers entlang, bis sie gegen eine Stehlampe prallte. Sie rieb sich die angestoßene Stirn, zeitgleich kam ein Stöhnen hinter der Couch hervor. Katja zauderte nun nicht länger, trat auf den Schalter, der die Leuchte aufflackern ließ und griff fast reflexartig nach dem nächstbesten Gegenstand. Leider war es kein Fleischmesser, sondern lediglich ein handelsüblicher Besen. Doch mit diesem bewaffnet fühlte sich Katja schon wesentlich sicherer. Sie machte ein paar große Schritte, überwand dabei mehrere Kisten und stand sogleich bei der Couch.
Zögerlich stellte sie sich auf die Zehenspitzen und lugte über die Lehne des Sitzmöbels. Dabei war sie auf alles gefasst: Sie würde wütenden Nebelkrähen mit dem Besen abwehren, Fledermäuse verscheuchen oder auch tollwütigen Uhus eins überbraten – um selbstverständlich anschließend den Tiernotdienst zu alarmieren.
Doch das Bild, das sich ihr bot, hatte sie bei Leibe nicht erwartet. Sofort wich ein Großteil ihrer gesunden Gesichtsfarbe einem kalkig weißen Ton. Mit treuen Augen schaute ihr Hund zu ihr auf und ließ die Zunge aus dem Maul hängen. Für Inu schien es das Normalste der Welt zu sein, doch dem dazugehörigen Frauchen klappte der Unterkiefer herab. Da hockte kein Vogel, keine Fledermaus oder sonst ein Nachtschwärmer hinter der Couch. Nein, statt eines Tieres lag da ein ausgewachsener Mann in schäbiger Jeans und zerlumptem Hemd am Boden. Wie Stroh stand ihm das ungepflegte blonde Haupthaar vom Kopf ab.
Nur ein leises Ächzen kam von ihm, ansonsten rührte er sich nicht. Für Inu schien es völlig in Ordnung zu sein, dass ein Mann durch das Fenster im dritten Stock hereingeflogen war. Katja aber fasste sich an die Stirn und zweifelte an ihrem Verstand. Hatte sie jetzt nicht mehr alle Tassen im Schrank? Kurz kniff sie die Augen zu und zwickte sich selbst in den linken Unterarm. Das konnte nicht wahr sein! Bestimmt war sie von all dem Umzugsstress ermattet über einer Schauergeschichte eingeschlafen und träumte das alles nur. Doch es blieb dabei: Da lag ein fremder Mann bäuchlings hinter ihrer Couch! Seine Arme waren nach vorne ausgestreckt, die Finger verkrampft wie Klauen. Scheinbar war er ohne Bewusstsein. Nur flüchtig streifte Katjas Blick einen hölzernen Gegenstand, der als Fremdkörper aus seinem Brustkorb unterhalb des linken Arms herausragte, und nur aus dem Augenwinkel heraus sah sie die dunkel gefärbte Lache, die sich unter dem Körper ausbreitete. Was es damit genau auf sich hatte, erfasste Katja in diesem Moment der Verwirrung nicht.
Langsam verschwamm ihr Blick, nervös begann sie, auf den Fingernägeln zu kauen. In ihrem Kopf türmten sich wüste Szenarien auf. Was sollte sie nur unternehmen? Die Feuerwehr oder die Polizei rufen? Doch was sollte sie ihnen sagen? Vielleicht: Hallo, hier spricht Katja Kleefeld, Mauergasse 3, im dritten Stockwerk. Bitte schicken Sie doch einen Krankenwagen vorbei, ich habe hier einen Verletzten ohne Bewusstsein. Alter undefinierbar, scheinbar männlich. Ist mir jüngst durchs Fenster zugeflogen.
Bestimmt würde daraufhin ein Auto vorfahren, das sie auf direktem Weg in die städtische Psychiatrie bringen würde, und dann würde man ihr ganz viele unangenehme Fragen stellen.