Die Wahlverwandtschaften

26.95

Die Eheleute Eduard und Charlotte leben zurückgezogen und glücklich auf einem prunkvollen Landgut. Die Zeit vertreiben sie sich mit Gartenarbeiten in der weitläufigen Parkanlage. Eines Tages besucht Eduards Freund, der Hauptmann Otto, das Anwesen, woraufhin Charlotte ihre Nicht Ottilie einlädt, damit sie ihr Gesellschaft leistet. Doch Eduard verliebt sich in das junge Mädchen, und Charlotte entwickelt im Gegenzug Gefühle für Otto. Während Charlotte und der Hauptmann beschließen, ihrer Liebe zu entsagen, schafft es Eduard nicht, sich gänzlich von Ottilie zu lösen. Verzweifelt verlässt er das Gut und zieht in den Krieg. Ein Jahr später kehrt er zurück und es tut sich eine Möglichkeit auf, wie er doch noch mit Ottilie glücklich werden kann – bis ein tragischer Unfall geschieht…


Autor: Johann Wolfgang von Goethe
Illustration: istockphoto.com
ca. 212 Seiten
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Schauplatz

das Landgut von Eduard und Charlotte

Epoche

um das Jahr 1800

Abriss

Der Begriff "Wahlverwandtschaft" stammt aus der Chemie und beschreibt das anziehende und abstoßende Verhalten von Naturelementen. In seinem Roman von 1809 überträgt Goethe dieses Prinzip auf die Figuren und schafft so eine dramatische Erzählung über die natürlichen Unzulänglichkeiten der Menschen.
(Kursiv:wird durch Ihre Angaben ersetzt)

Leseprobe

Indem nun Charlotte mit dem Hauptmann eine gemeinsame Beschäftigung fand, so war die Folge, daß sich Eduard mehr zu Ottilien gesellte. Für sie sprach ohnehin seit einiger Zeit eine stille, freundliche Neigung in seinem Herzen. Gegen jedermann war sie dienstfertig und zuvorkommend; daß sie es gegen ihn am meisten sei, das wollte seiner Selbstliebe scheinen. Nun war keine Frage: was für Speisen und wie er sie liebte, hatte sie schon genau bemerkt; wieviel er Zucker zum Tee zu nehmen pflegte und was dergleichen mehr ist, entging ihr nicht. Besonders war sie sorgfältig, alle Zugluft abzuwehren, gegen die er eine übertriebene Empfindlichkeit zeigte und deshalb mit seiner Frau, der es nicht luftig genug sein konnte, manchmal in Widerspruch geriet. Ebenso wußte sie im Baum- und Blumengarten Bescheid. Was er wünschte, suchte sie zu befördern, was ihn ungeduldig machen konnte, zu verhüten, dergestalt daß sie in kurzem wie ein freundlicher Schutzgeist ihm unentbehrlich ward und er anfing, ihre Abwesenheit schon peinlich zu empfinden. Hiezu kam noch, daß sie gesprächiger und offener schien, sobald sie sich allein trafen.
Eduard hatte bei zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten, das der Jugend Ottiliens besonders zusagte. Sie erinnerten sich gern früherer Zeiten, wo sie einander gesehen; es stiegen diese Erinnerungen bis in die ersten Epochen der Neigung Eduards zu Charlotten. Ottilie wollte sich der beiden noch als des schönsten Hofpaares erinnern; und wenn Eduard ihr ein solches Gedächtnis aus ganz früher Jugend absprach, so behauptete sie doch, besonders einen Fall noch vollkommen gegenwärtig zu haben, wie sie sich einmal bei seinem Hereintreten in Charlottens Schoß versteckt, nicht aus Furcht, sondern aus kindischer Überraschung. Sie hätte dazusetzen können: weil er so lebhaften Eindruck auf sie gemacht, weil er ihr gar so wohl gefallen.
Bei solchen Verhältnissen waren manche Geschäfte, welche die beiden Freunde zusammen früher vorgenommen, gewissermaßen in Stocken geraten, sodaß sie für nötig fanden, sich wieder eine Übersicht zu verschaffen, einige Aufsätze zu entwerfen, Briefe zu schreiben. Sie bestellten sich deshalb auf ihre Kanzlei, wo sie den alten Kopisten müßig fanden. Sie gingen an die Arbeit und gaben ihm bald zu tun, ohne zu bemerken, daß sie ihm manches aufbürdeten, was sie sonst selbst zu verrichten gewohnt waren. Gleich der erste Aufsatz wollte dem Hauptmann, gleich der erste Brief Eduarden nicht gelingen. Sie quälten sich eine Zeitlang mit Konzipieren und Umschreiben, bis endlich Eduard, dem es am wenigsten vonstatten ging, nach der Zeit fragte.
Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte, seine chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, daß die Zeit anfange, ihnen gleichgültig zu werden.
Indem so die Männer einigermaßen in ihrer Geschäftigkeit nachließen, wuchs vielmehr die Tätigkeit der Frauen. Überhaupt nimmt die gewöhnliche Lebensweise einer Familie, die aus den gegebenen Personen und aus notwendigen Umständen entspringt, auch wohl eine außerordentliche Neigung, eine werdende Leidenschaft in sich wie ein Gefäß auf, und es kann eine ziemliche Zeit vergehen, ehe dieses neue Ingrediens eine merkliche Gärung verursacht und schäumend über den Rand schwillt.
Bei unsern Freunden waren die entstehenden wechselseitigen Neigungen von der angenehmsten Wirkung. Die Gemüter öffneten sich, und ein allgemeines Wohlwollen entsprang aus dem besonderen. Jeder Teil fühlte sich glücklich und gönnte dem andern sein Glück.
Ein solcher Zustand erhebt den Geist, indem er das Herz erweitert, und alles, was man tut und vornimmt, hat eine Richtung gegen das Unermeßliche. So waren auch die Freunde nicht mehr in ihrer Wohnung befangen. Ihre Spaziergänge dehnten sich weiter aus, und wenn dabei Eduard mit Ottilien, die Pfade zu wählen, die Wege zu bahnen, vorauseilte, so folgte der Hauptmann mit Charlotten in bedeutender Unterhaltung, Teilnehmend an manchem neuentdeckten Plätzchen, an mancher unerwarteten Aussicht, geruhig der Spur jener rascheren Vorgänger.

Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28. August 1749 in Frankfurt am Main geboren. Er begann sein Studium der Jura 1768 in Leipzig, das er wegen einer schweren Erkrankung unterbrach und schließlich 1770 in Straßburg fortsetzte und 1771 beendete. Er eröffnete eine kleine Anwaltskanzlei in Frankfurt, seine Aufmerksamkeit galt jedoch immer mehr der Dichtung. Auf Einladung von Herzog Carl August zog er nach Weimar, wo er ab 1776 im Staatsdienst arbeitete. Aus einer persönlichen Lebenskrise heraus, unternahm er von 1786-1788 seine erste Italienreise, 1790 die zweite. 1806 heiratete er Christiane Vulpius, mit der er bereits seit 1789 eine Beziehung hatte. Goethe starb am 22. März 1832 in Weimar.


Eine Auswahl an Werken:

1773 Götz von Berlichingen 1774 Die Leiden des jungen Werther 1779 Iphigenie auf Tauris 1788 Egmont 1790 Torquato Tasso 1798 Hermann und Dorothea 1795 Wilhelm Meisters Lehrjahre 1808 Faust, 1. Teil 1809 Die Wahlverwandtschaften 1833 Faust, 2. Teil

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