Die Fieberkurve

26.95

Wachtmeister Studers zweiter Fall führt ihn nach Afrika: Mysteriöse Todesfälle im Kreise des Geologen Victor Cleman veranlassen Studer dazu, nach Marokko zu fahren. Dort sucht er nach Kaufverträgen für ein erdölträchtiges Grundstück, das Cleman seiner Tochter Marie hinterlassen hat, an dem neben dem Kanton Bern auch die französische Regierung interessiert ist. Die fremde Kultur Marokkos versetzt Studer in einen fiebrigen Traumzustand, in dem sein Fall immer mehr in den Hintergrund gerät – wird es ihm trotzdem gelingen, ihn zu lösen?


Autor: Friedrich Glauser
Illustration:
ca. 204 Seiten
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(Kursiv:wird durch Ihre Angaben ersetzt)

Schauplatz

Paris, Basel, Bern, Marokko

Epoche

Anfang des 20. Jahrhunderts

Abriss

Ein schlichter schweizer Wachtmann in der marokkanischen Wüste, ein spannender Fall und eine Menge Lebensbetrachtungen!
(Kursiv:wird durch Ihre Angaben ersetzt)

Leseprobe

Er rauchte aus einer Pfeife, deren roter Tonkopf nur fingerhutgroß war, ein Kraut, dessen Rauch an den Geruch von Asthmazigaretten erinnerte. Er empfing Studer sitzend; wie ein morgenländischer König saß er auf einem Teppich, mit gekreuzten Beinen. Man vergaß das leere ärmliche Gemach und das grelle Licht, das eine Azetylenlampe im Raume verspritzte.
Kein Mißtrauen dem fremden Besucher gegenüber... Eine stille, verhaltene Heiterkeit...
Der Korporal Collani? Ein guter Freund. Sehr still, sehr schweigsam. Hatte sich an niemanden angeschlossen, darum kam er immer am Abend zu ihm, Achmed. Rauchte zwei Pfeifen Kif. „Nein, Inspektor, von diesem Quantum gibt es noch keinen Rausch! Was denken Sie!“ Achmed sprach ein gewöhnliches Französisch und Studer hätte den Mann gern gefragt, wo er sich seine Bildung angeeignet habe. „Man schläft gut nach zwei Pfeifen“, erklärte Achmed. „Und der Korporal litt an Schlaflosigkeit. Er seufzte oft – nicht wie einer, den etwas bedrückt, sondern wie ein Mensch, der eine kostbare Perle verloren hat und sie überall sucht... Diesen Sommer war es besonders arg. Einmal hat er geweint, richtig geweint, wie ein kleines Kind, dem seine liebste Glaskugel gestohlen worden ist...“
Ein Mulatte! Ein einfacher Mensch und ein armer dazu! Aber welch Verständnis und wie gut sprach er von den Regungen der Seele!
„Ich hab' ihn zu trösten versucht“, fuhr Achmed fort, „hab' ihn gebeten, sich mir anzuvertrauen... Umsonst. Er wiederholte immer wieder: ‚Wenn ich den Brief öffne, diesen Brief da!...’ und zeigte ihn mir, ‚dann überfällt mich die Vergangenheit – und er kommt mich holen!’ – ‚Wer kommt dich holen, Korporal?’, wollte ich wissen. – ‚Der Teufel, Achmed! Der alte Teufel! Ich hab' ihn getötet, den Teufel, aber der Teufel ist unsterblich, nie können wir wissen, wann er wieder aufwacht!...’ Und so hat er den Brief fortgeschickt, am 20. Juli vorigen Jahres. ‚Ich hatte noch eine Kopie dieses Briefes’, erzählte er mir am nächsten Tage. ‚Aber ich weiß nicht, wo diese Kopie ist. Ich habe meine Sachen durchsucht, aber sie ist nirgends zu finden... Es ist auch besser so!’ Zwei Monate später, am 28. September, ist ein Fremder zu mir gekommen und hat nach dem Korporal Collani gefragt. Er hat gewartet – aber an diesem Abend ist der Korporal spät gekommen. Er hat den Fremden nicht beachtet, sondern nur zu mir gesagt: ‚Jetzt weiß ich, wo die Kopie ist. Ich hatte sie in das Futter einer alten Wollweste eingenäht. Ganz deutlich sah ich's gerade.’ – ‚Wo warst du bist jetzt, Korporal?’, fragte ich. – ‚Beim Priester’, antwortete er. Und dann erblickte er den Fremden...“ Achmed schwieg. Er blickte mit seinen braunen Augen, so dunkel waren sie, daß sie fast schwarz wirkten, treuherzig zu Studer auf, der neben der pfeifenden Azetylenlampe an der Wand lehnte...
Es gab also eine Kopie der Fieberkurve!... Wo war diese Kopie zu suchen? Und wenn sie in den Händen der „Widersacher“, um den rätselhaften Leuten, mit denen man es zu tun hatte, einen Namen zu geben, wenn sie also in den Händen der Widersacher war – wo mußte man sie suchen? Und wenn die Widersacher die Kurve hatten, warum hatten sie dann zwei Berner Gangster auf den Wachtmeister gehetzt, um ihm das Dokument zu stehlen?
Plötzlich war es Studer, als schnappe in seinem Kopfe etwas ein – es war ein merkwürdiges Gefühl. Ein Zahnrad dreht sich neben einem anderen, das still steht. Ein Hebel wird umgestellt – die Zähne des rotierenden Rades greifen in die Zähne des ruhenden – nun drehen beide sich... Dieses Einschnappen vollzog sich, weil der Berner Wachtmeister plötzlich die beiden Karten sah, die in Bern sowohl als auch in Basel in der obersten Reihe des ausgelegten Spieles lagen: der Schaufelbauer! der Pique-Bube! Schaufeln – die Unglücksfarbe. Der Schaufelbauer – der Tod. Merkwürdig, dachte Studer, wie unser Gedächtnis manchmal funktioniert: wir speichern Bilder auf und vergessen sie wieder – und plötzlich taucht solch ein vergessenes Bild aus der Versenkung auf, ist entwickelt, kopiert – ganz scharf...
Mit gekreuzten Beinen saß Achmed in seiner Ecke und stieß Rauchwolken aus. Und so vertieft war Wachtmeister Studer in seine Gedanken, daß er gar nicht merkte, wie er selbst sich zu Boden gleiten ließ, – aber es gelang ihm nicht, kunstgerecht auf seine eigenen Absätze zu hocken. Er streckte die Hand aus – denn er war zu sehr mit seinen Überlegungen beschäftigt, um selbst eine Pfeife zu stopfen – er streckte die Hand aus und dann zog er träumend an einem Mundstück, atmete den Rauch tief in die Lungen ein und stieß ihn wieder von sich. „Noch eine“, murmelte er.
„Bruder“, belehrte ihn Achmed, „du mußt sagen: Amr sbsi – das heißt: füll mir die Pfeife...“
Und gehorsam wiederholte Studer: „Amr sbsi!“
Der Rauch kratzte ein wenig im Schlund, aber im Kopfe begann es farbig auszusehen.
„Amr sbsi...“ Achmed lächelte. Er hatte breite Zähne. Weiß war das Licht der Azetylenlampe im gekalkten Zimmer. Aber wenn man durch die Wimpern blinzelte, dann tanzten alle Regenbogenfarben Gavotte.
„Mlech?“, fragte Achmed. Studer nickte. Es kam ihm vor, als spreche er ausgezeichnet Arabisch, „Mlech“ – das hieß natürlich: „Gut.“ Eifrig nickte der Wachtmeister und wiederholte: „Mlech, mlech!“
Einen Augenblick wurde er wieder nüchtern und versuchte sich auf das Datum des heutigen Tages zu besinnen. Er wollte diese Frage auf arabisch stellen, aber da war ihm der heimatliche Dialekt im Wege; doch auch dieser wollte nicht über seine Lippen. Es wurde ein brummendes Gestammel aus der Frage, obwohl Studer überzeugt war, sie sehr klar gestellt zu haben.
Achmeds Gesicht drückte lächelndes Erstaunen aus. Und dann machte Achmed drei Gesten, die Studers westeuropäische Einstellung zur Zeit in ihren Grundfesten erschütterte. Ein Vorstrecken der flachen Hände, ein Heben der Arme und die Hände fielen zurück auf die Knie, dann hob sich die Rechte mit aufgerecktem Zeigefinger, während die übrigen Finger sich zur Faust schlossen; der aufgereckte Zeigefinger aber legte sich auf den Mund und nachher deutete er gen Himmel...
Und so ausdrucksvoll waren diese Bewegungen, daß Studer sie mühelos übersetzte:
„Mensch! Bruder! Wie willst du die Zeit halten in deinen offenen Händen, verzweifeln mußt du, wenn du an die Ewigkeit denkst... Er aber, der dort oben thront, der Ewig-Schweigende, was kümmert Er sich um die Zeit, Er, dem die Ewigkeit gehört?“
Der Wachtmeister dachte dunkel, nun, da er diese Bewegungen gesehen und verstanden hatte, würde er unfähig sein, jemals wieder seine Tätigkeit an der Berner Fahndungspolizei aufzunehmen. Er sah sich am Morgen aufstehen, sich rasieren... In der Wohnung duftete es nach Kaffee. Schon halb acht. Um acht mußte er im Amtshaus sein, auf seinem Bureau... Aber was ist das? Zwei Hände breiten sich flach aus, ein Zeigefinger reckt sich gen Himmel... Ins Bureau? Wozu? Das Amtshaus, der Dienst, die Segnungen der westlichen Kultur: Betriebsamkeit, Arbeit nach der Uhr, Dienstzeit, der Lohn am Monatsende, wo waren sie geblieben? Wozu dies alles? Um Allahs willen, wozu?... Man versank im Meere der Ewigkeit, man starb. Was nützte alles Tun? Warum nahm man sich so wichtig, reiste mit falschen Pässen, suchte nach verschwundenen Leuten, wollte einen Schatz heben? Nur ein winziger Tropfen war man doch im Nebelschwaden der Menschheit – und verdunstete...
Immer noch saß der Mulatte dem Wachtmeister gegenüber, und sein Gesicht sah aus wie das ewig junge Antlitz eines fremden Gottes...
„Amr sbsi! Füll mir die Pfeife!“
Die Pfeife, die winzige, fingerhutgroße Tonpfeife wurde gefüllt, und neben dem Wachtmeister stand plötzlich eine Tasse, der edle Wohlgerüche entströmten. Aber Studer war nicht mehr fähig, festzustellen, daß dieser himmlische Trank ganz einfacher Tee war, in dem ein paar Minzenblätter schwammen. Er trank, trank...
Woher kam die Musik? Ein toller Tanz stampfte vor seinen Ohren, und er sah Frauen, die ihre Fußspitzen weit über ihren Kopf schleuderten. Dann roch es nach Rosen, nach vielen gelben Rosen, der Wachtmeister legte sich ins feuchte Moos, rings um ihn breitete ein Garten sich aus – der duftete nach Erde und Gewitterregen. Noch einmal wurde ihm die Pfeife in die Hand gedrückt; nun drehten sich Sterne vor seinen Augen und beschrieben riesige Kreise... Und die Musik? Die Musik, die ertönte?
Sie klang, als werde der Bernermarsch von himmlischen Heerscharen gespielt...
Später sollte Studer noch oft, etwa beim Billardspielen dem Notar Münch, die Wonnen des Haschischrausches schildern; aber meist gingen ihm nach einiger Zeit die Eigenschaftswörter aus und er endete dann mit dem stärksten Superlativ, der ihm zur Verfügung stand:
„Suber!“, sagte er. „Cheibe suber isch es gsy!“

Friedrich Glauser

Friedrich Glauser wurde am 4. Februar 1896 in Wien als Sohn eines Schweizers und einer Österreicherin geboren. Schon in frühen Jahren konnte er sich nicht in die gesellschaftlichen Normen einfügen und entkam nur dank vorzeitigem Verlassen des Elisabeth-Gymnasiums in Wien dem Schulausschluss. Sein Vater bestand darauf, dass Friedrich Glauser seine Erziehung von nun an in der Schweiz genießen sollte. 1918 ließ ihn sein Vater entmündigen, was ihn wohl zusätzlich in die Morphiumsucht trieb. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und verfiel immer wieder der Morphiumsucht, bis ihn schließlich die Schriftstellerei ganz in Anspruch nahm. Einen Tag vor seiner geplanten Hochzeit mit Berthe Bendel brach Glauser zusammen und starb am 8. Dezember 1938 in Nervi bei Genua.


Eine Auswahl an Werken:

1934/35 Wachtmeister Studer 1936 Matto regiert 1938 Die Fieberkurve 1938 Der Chinese 1940 Krock & Co. 1940 Gourrama 1941 Der Tee der drei alten Damen

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