Die Marquise von O…
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Die verwitwete Marquise von O… gerät während der Erstürmung einer Zitadelle in die Fänge von russischen Soldaten. Bevor diese sie missbrauchen können, wird die Marquise jedoch von einem russischen Offizier, dem Grafen F…, gerettet – und fällt in Ohnmacht.
Ihre Familie möchte dem Grafen ihre Dankbarkeit erweisen, muss aber vernehmen, dass dieser in einem späteren Kampf gefallen ist. Die Marquise erholt sich zwar mit der Zeit von dem Schrecken, leidet jedoch an einem unerklärlichen Unwohlsein und muss erkennen, dass dieses auf eine Schwangerschaft zurückzuführen ist, die sie sich jedoch nicht erklären kann. Als sie von ihrer Familie des Hauses verwiesen wird, gibt sie verzweifelt eine Annonce auf, in der sie bekannt gibt, dass sie unwissentlich schwanger sei und sich der Vater des Kindes melden möge. Sie wäre aus “Familienrücksichten” bereit, diesen zu heiraten. Und tatsächlich erhält sie eine Antwort auf die Anzeige…
Autor: Heinrich von Kleist
Illustration:
ca. 56 Seiten
Leseprobe
Mehrere Wochen, in welchen die Familie, mit sehr verschiedenen Empfindungen, auf den Ausgang dieser sonderbaren Sache gespannt war, verstrichen. Der Kommandant empfing vom General K..., dem Onkel des Grafen, eine höfliche Zuschrift; der Graf selbst schrieb aus Neapel; die Erkundigungen, die man über ihn einzog, sprachen ziemlich zu seinem Vorteil; kurz, man hielt die Verlobung schon für so gut, wie abgemacht, als sich die Kränklichkeiten der Marquise, mit größerer Lebhaftigkeit, als jemals, wieder einstellten. Sie bemerkte eine unbegreifliche Veränderung ihrer Gestalt. Sie entdeckte sich mit völliger Freimütigkeit ihrer Mutter, und sagte, sie wisse nicht, was sie von ihrem Zustand denken solle. Die Mutter, welche so sonderbare Zufälle für die Gesundheit ihrer Tochter äußerst besorgt machten, verlangte, daß sie einen Arzt zu Rate ziehe. Die Marquise, die durch ihre Natur zu siegen hoffte, sträubte sich dagegen; sie brachte mehrere Tage noch, ohne dem Rat der Mutter zu folgen, unter den empfindlichsten Leiden zu, bis Gefühle, immer wiederkehrend und von so wunderbarer Art, sie in die lebhafteste Unruhe stürzten.Sie ließ einen Arzt rufen, der das Vertrauen ihres Vaters besaß, nötigte ihn, da gerade die Mutter abwesend war, auf den Diwan nieder, und eröffnete ihm, nach einer kurzen Einleitung, scherzend, was sie von sich glaube. Der Arzt warf einen forschenden Blick auf sie; schwieg noch, nachdem er eine genaue Untersuchung vollendet hatte, eine Zeit lang, und antwortete dann mit einer sehr ernsthaften Miene, daß die Frau Marquise ganz richtig urteile. Nachdem er sich auf die Frage der Dame, wie er dies verstehe, ganz deutlich erklärt, und mit einem Lächeln, das er nicht unterdrücken konnte, gesagt hatte, daß sie ganz gesund sei, und keinen Arzt brauche, zog die Marquise, und sah ihn sehr streng von der Seite an, die Klingel, und bat ihn, sich zu entfernen. Sie äußerte halblaut, als ob er der Rede nicht wert wäre, vor sich nieder murmelnd, daß sie nicht Lust hätte, mit ihm über Gegenstände dieser Art zu scherzen. Der Doktor erwiderte empfindlich, er müsse wünschen, daß sie immer zum Scherz so wenig aufgelegt gewesen wäre, wie jetzt; nahm Stock und Hut, und machte Anstalten, sich sogleich zu empfehlen. Die Marquise versicherte, daß sie von diesen Beleidigungen ihren Vater unterrichten würde. Der Arzt antwortete, daß er seine Aussage vor Gericht beschwören könne, öffnete die Tür, verneigte sich, und wollte das Zimmer verlassen. Die Marquise fragte, da er noch einen Handschuh, den er hatte fallen lassen, von der Erde aufnahm: „Und die Möglichkeit davon, Herr Doktor?“ Der Doktor erwiderte, daß er ihr die letzten Gründe der Dinge nicht werde zu erklären brauchen; verneigte sich ihr noch einmal, und ging ab.
Die Marquise stand, wie vom Donner gerührt. Sie raffte sich auf, und wollte zu ihrem Vater eilen; doch der sonderbare Ernst des Mannes, von dem sie sich beleidigt sah, lähmte alle ihre Glieder. Sie warf sich in der größten Bewegung auf den Diwan nieder. Sie durchlief, gegen sich selbst mißtrauisch, alle Momente des verflossenen Jahres, und hielt sich für verrückt, wenn sie an den letzten dachte. Endlich erschien die Mutter; und auf die bestürzte Frage, warum sie so unruhig sei, erzählte ihr die Tochter, was ihr der Arzt soeben eröffnet hatte. Frau von G... nannte ihn einen Unverschämten und Nichtswürdigen, und bestärkte die Tochter in dem Entschluß, diese Beleidigung dem Vater zu entdecken. Die Marquise versicherte, daß es sein völliger Ernst gewesen sei, und daß er entschlossen scheine, dem Vater ins Gesicht seine rasende Behauptung zu wiederholen. Frau von G... fragte, nicht wenig erschrocken, ob sie denn an die Möglichkeit eines solchen Zustandes glaube. „Eher“, antwortete die Marquise, „daß die Gräber befruchtet werden, und sich dem Schoße der Leichen eine Geburt entwickeln wird.“ – „Nun, du liebes wunderliches Weib“, sagte die Obristin, indem sie sie fest an sich drückte. „Was beunruhigt dich denn? Wenn dein Bewußtsein dich rein spricht, wie kann dich ein Urteil, und wäre es das einer ganzen Konsulta von Ärzten, nur kümmern? Ob das seinige aus Irrtum, ob es aus Bosheit entsprang, gilt es dir nicht völlig gleichviel? Doch schicklich ist es, daß wir es dem Vater entdecken.“ – „O Gott!“, sagte die Marquise, mit einer konvulsivischen Bewegung. „Wie kann ich mich beruhigen? Hab’ ich nicht mein eignes, innerliches, mir nur allzuwohlbekanntes Gefühl gegen mich? Würd’ ich nicht, wenn ich in einer andern meine Empfindung wüßte, von ihr selbst urteilen, daß es damit seine Richtigkeit habe?“ – „Es ist entsetzlich“, versetzte die Obristin. „Bosheit! Irrtum!“, fuhr die Marquise fort. „Was kann dieser Mann, der uns bis auf den heutigen Tag schätzenswürdig erschien, für Gründe haben, mich auf eine so mutwillige und niederträchtige Art zu kränken? Mich, die ihn nie beleidigt hatte? Die ihn mit Vertrauen, und dem Vorgefühl zukünftiger Dankbarkeit, empfing? Bei der er, wie seine ersten Worte zeugten, mit dem reinen und unverfälschten Willen erschien, zu helfen, nicht Schmerzen, grimmigere, als ich empfand, erst zu erregen? Und wenn ich in der Notwendigkeit der Wahl“, fuhr sie fort, während die Mutter sie unverwandt ansah, „an einen Irrtum glauben wollte, ist es wohl möglich, daß ein Arzt, auch nur von mittelmäßiger Geschicklichkeit, in solchem Falle irre?“ – Die Obristin sagte ein wenig spitz: „Und gleichwohl muß es doch notwendig eins oder das andere gewesen sein.“ – „Ja!“, versetzte die Marquise, „meine teuerste Mutter“, indem sie ihr, mit dem Ausdruck der gekränkten Würde, hochrot im Gesicht glühend, die Hand küßte, „das muß es! Obschon die Umstände so außerordentlich sind, daß es mir erlaubt ist, daran zu zweifeln. Ich schwöre, weil es doch einer Versicherung bedarf, daß mein Bewußtsein, gleich dem meiner Kinder ist; nicht reiner, Verehrungswürdigste, kann das Ihrige sein. Gleichwohl bitte ich Sie, mir eine Hebamme rufen zu lassen, damit ich mich von dem, was ist, überzeuge, und gleichviel alsdann, was es sei, beruhige.“ – „Eine Hebamme!“, rief Frau von G... mit Entwürdigung. „Ein reines Bewußtsein, und eine Hebamme!“ Und die Sprache ging ihr aus. „Eine Hebamme, meine teuerste Mutter“, wiederholte die Marquise, indem sie sich auf Knieen vor ihr niederließ; „und das augenblicklich, wenn ich nicht wahnsinnig werden soll.“ – „O sehr gern“, versetzte die Obristin, „nur bitte ich, das Wochenlager nicht in meinem Hause zu halten.“
Und damit stand sie auf, und wollte das Zimmer verlassen. Die Marquise, ihr mit ausgebreiteten Armen folgend, fiel ganz auf das Gesicht nieder, und umfaßte ihre Kniee. „Wenn irgendein unsträfliches Leben“, rief sie, mit der Beredsamkeit des Schmerzes, „ein Leben, nach Ihrem Muster geführt, mir ein Recht auf Ihre Achtung gibt, wenn irgendein mütterliches Gefühl auch nur, so lange meine Schuld nicht sonnenklar entschieden ist, in Ihrem Busen für mich spricht, so verlassen Sie mich in diesen entsetzlichen Augenblicken nicht.“ – „Was ist es, das dich beunruhigt?“, fragte die Mutter. „Ist es weiter nichts, als der Ausspruch des Arztes? Weiter nichts, als dein innerliches Gefühl?“ – „Nichts weiter, meine Mutter“, versetzte die Marquise, und legte ihre Hand auf die Brust. „Nichts, Julietta?“, fuhr die Mutter fort. „Besinne dich. Ein Fehltritt, so unsäglich er mich schmerzen würde, er ließe sich, und ich müßte ihn zuletzt verzeihn; doch wenn du, um einem mütterlichen Verweis auszuweichen, ein Märchen von der Umwälzung der Weltordnung ersinnen, und gotteslästerliche Schwüre häufen könntest, um es meinem, dir nur allzugerngläubigen, Herzen aufzubürden, so wäre das schändlich; ich würde dir niemals wieder gut werden.“ – „Möge das Reich der Erlösung einst so offen vor mir liegen, wie meine Seele vor Ihnen“, rief die Marquise. „Ich verschwieg Ihnen nichts, meine Mutter.“ – Diese Äußerung, voll Pathos getan, erschütterte die Mutter. „O Himmel!“, rief sie, „mein liebenswürdiges Kind! Wie rührst du mich!“ Und hob sie auf, und küßte sie, und drückte sie an ihre Brust. „Was denn, in aller Welt, fürchtest du? Komm, du bist sehr krank.“ Sie wollte sie in ein Bett führen. Doch die Marquise, welcher die Tränen häufig flossen, versicherte, daß sie sehr gesund wäre, und daß ihr gar nichts fehle, außer jenem sonderbaren und unbegreiflichen Zustand. – „Zustand!“, rief die Mutter wieder; „welch ein Zustand? Wenn dein Gedächtnis über die Vergangenheit so sicher ist, welch ein Wahnsinn der Furcht ergriff dich? Kann ein innerliches Gefühl denn, das doch nur dunkel sich regt, nicht trügen?“ – „Nein! Nein!“, sagte die Marquise, „es trügt mich nicht! Und wenn Sie die Hebamme rufen lassen wollen, so werden Sie hören, daß das Entsetzliche, mich Vernichtende, wahr ist.“ – „Komm, meine liebste Tochter“, sagte Frau von G..., die für ihren Verstand zu fürchten anfing. „Komm, folge mir, und lege dich zu Bett. Was meintest du, daß dir der Arzt gesagt hat? Wie dein Gesicht glüht! Wie du an allen Gliedern so zitterst! Was war es schon, das dir der Arzt gesagt hat?“
Und damit zog sie die Marquise, ungläubig nunmehr an den ganzen Auftritt, den sie ihr erzählt hatte, mit sich fort. – Die Marquise sagte: „Liebe! Vortreffliche!“, indem sie mit weinenden Augen lächelte. „Ich bin meiner Sinne mächtig. Der Arzt hat mir gesagt, daß ich in gesegneten Leibesumständen bin. Lassen Sie die Hebamme rufen, und sobald sie sagt, daß es nicht wahr ist, bin ich wieder ruhig.“ – „Gut, gut!“, erwiderte die Obristin, die ihre Angst unterdrückte. „Sie soll gleich kommen; sie soll gleich, wenn du dich von ihr willst auslachen lassen, erscheinen, und dir sagen, daß du eine Träumerin, und nicht recht klug bist.“ Und damit zog sie die Klingel, und schickte augenblicklich einen ihrer Leute, der die Hebamme rufe.
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