(Kursiv:wird durch Ihre Angaben ersetzt)
Personen :
9 weibliche und 9 männliche Rollen
Weibliche Hauptrolle
Lily Braun, Schauspielerin; energisch; kräftige Stimme; kommt ursprünglich vom Dorf; ihr Vater hat einen Gutshof; ist zusammen mit ihrer besten Freundin Sofie nach Berlin gezogen, um dort ihr Glück als Schauspielerin zu versuchen; hat einen kleinen weißen Hund namens Gustavo, der immer wieder Unsinn anstellt; bekommt von einem Unbekannten ständig weiße Rosen geschickt; ihr amerikanischer Verehrer Bill schenkt ihr zwei Fahrkarten für die Titanic; als ihr die Stelle und die Wohnung gekündigt werden und ihr ein ominöser Schuldschein geschickt wird, beschließt sie, zusammen mit Sofie die Reise nach New York anzutreten; ist überwältigt von der Pracht der Titanic, fühlt sich jedoch in dem Luxus fremd; freundet sich auf dem Schiff mit Harri und Gretchen an; bekommt auch dort wieder weiße Rosen geschickt; findet heraus, dass Alexander von Drachstetten hinter den Rosen, dem Schuldschein und auch dem Titanic-Ticket steckt; Alexander zwingt sie zu einem Abendessen, bei dem er sie mit einem Revolver bedroht; nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg kann sie ihm entkommen; kann sich auf eines der Rettungsboote retten und überlebt den Untergang der Titanic.
Beste Freundin der weiblichen Hauptrolle
Sofie Suttner, Lilys beste Freundin seit Kindertagen; Schneiderin; arbeitet als Kostümbildnerin am Theater in Berlin; träumt vom eigenen Modeatelier; auch ihr wird gekündigt und sie geht mit Lily auf die Titanic; hat stets viele Verehrer; flirtet ein wenig mit Felix; wird nach dem Zusammenstoß der Titanic von Lily getrennt, kann sich jedoch ebenfalls retten und überlebt; trifft Lilly auf der Carpathia wieder.
Fiesling
Alexander von Drachstetten, Fiesling; durchdringender Blick; glattrasiert; gemein; egoistisch; sehr reich; leicht wahnsinnig; Lily lernt ihn auf der Titanic kennen und findet zunächst Gefallen an ihm, sie erkennt jedoch schnell seine wahres egoistisches Gesicht; er kennt Lily von früher, als er Urlaub auf dem Gutshof ihres Vaters machte; war schon damals gemein und egoistisch, und als er einen Kuss von Lily wollte, hielt Sofie ihm stattdessen ein Schwein vor die Nase; hat das den beiden nicht verziehen und lockt sie auf die Titanic, um sich zu rächen; zwingt Lily mit dem Schuldschein zu einem Abendessen; als sie nicht macht, was er von ihr verlangt, dreht er immer mehr durch und bedroht sie mit einem Revolver; erzwingt sich mit dem Revolver Zugang zu einem der Rettungsboote und verhindert, dass weitere Menschen aufgenommen werden; wird von einer der Frauen mit ins Wasser gerissen und stirbt.
Freundlicher Steward
Felix Glasen, Steward auf der Titanic; sehr nett und hilfsbereit; ein bisschen in Sofie verliebt; wird nach dem Untergang der Titanic aus dem Wasser gefischt und überlebt.
Familie in der dritten Klasse - Sohn
Harri, Passagier der dritten Klasse auf der Titanic; Sohn von Conrad und Käte; großer Bruder von Gretchen; etwa zehn Jahre alt; streunt mit Gretchen auf der Titanic herum und lernt dabei Lily kennen; er und Gretchen halten vor dem Blumenladen Wache, um herauszufinden, wer Lily die weißen Rosen schickt; überlebt.
Familie in der dritten Klasse - Tochter
Gretchen, Passagierin der dritten Klasse auf der Titanic; Tochter von Conrad und Käte; kleine Schwester von Harri; sehr ruhig; streunt mit Harri auf der Titanic herum und lernt dabei Lily kennen; sie und Harri halten vor dem Blumenladen Wache, um herauszufinden, wer Lily die weißen Rosen schickt; befindet sich mit Lily im Rettungsboot und überlebt.
Familie in der dritten Klasse - Mutter
Käte Müller; Passagierin der dritten Klasse auf der Titanic; verheiratet mit Conrad; Mutter von Harri und Gretchen; schwanger; begegnet Lily mit Misstrauen und Abneigung; weigert sich, ohne ihren Mann in eines der Rettungsboote zu steigen; wird nach dem Untergang der Titanic aus dem Wasser gefischt und überlebt.
Familie in der dritten Klasse - Vater
Conrad Müller, Passagier der dritten Klasse auf der Titanic; verheiratet mit Käte; Vater von Harri und Gretchen; wird nach dem Untergang der Titanic aus dem Wasser gefischt und überlebt; sehr kleine Rolle.
Öl-Millionär aus Texas
Roderick Nordman, Passagier der ersten Klasse; amerikanischer Öl-Millionär aus Texas; elegant; freundlich; mit Dolly zusammen, die er sehr liebt; verlässt die sinkende Titanic nicht; sein Schicksal bleibt offen.
Tänzerin aus New York
Dolly Havers, Passagierin der ersten Klasse; Tänzerin aus New York; liebt Roderick sehr und hat Angst, dass er glaubt, dass sie nur wegen seines Geldes mit ihm zusammen ist; um ihre Liebe zu beweisen, verharrt sie mit ihm auf der sinkenden Titanic; ihr Schicksal bleibt offen.
Verehrer der weiblichen Hauptrolle
Bill Cody, reicher Amerikaner; ein Verehrer von Lily; freundlich; unaufdringlich; macht Lily immer wieder Geschenke und lädt sie nach Amerika ein; von ihm stammen angeblich die Fahrkarten für die Titanic, was sich als Täuschung von Alexander herausstellt; wird nur erwähnt.
Vermieterin der weiblichen Hauptrolle
Frau Lörkner, Lilys Vermieterin in Berlin; Dauerwelle; wacht argwöhnisch über alles, was Lily und Sofie tun; wirft Lily und Sofie schließlich aus der Wohnung; kleine Rolle.
Garadrobiere im Theater
Frau Stratmann, Garderobiere am Berliner Theater; gute Seele des Theaters; kümmert sich um Gustavo, wenn Lily auf der Bühne steht; kleine Rolle.
Dramaturg am Berliner Theater
Herr Thaler, Dramaturg am Berliner Theater; muss Lily wegen des Drucks von oben feuern, was ihm sehr schwer fällt; kleine Rolle.
Schauspielerin am Berliner Theater
Hedwig, Schauspielkollegin am Berliner Theater; kleine Rolle.
Weitere Schauspielerin am Berliner Theater
Paula, Schauspielkollegin am Berliner Theater; kleine Rolle.
Schauspieler am Berliner Theater
Robert, Schauspielkollege am Berliner Theater; kommt aus reicher Familie; wurde enterbt, als er zum Theater ging; nicht blond; kleine Rolle.
Weiterer Schauspieler am Berliner Theater
Oskar, Schauspielkollege am Berliner Theater; kleine Rolle.
Nicht personalisiert werden reale Personen und sehr kleine Nebenrollen:
Kapitän Edward John Smith, Kapitän der Titanic.
Thomas Andrews, Konstrukteur der Titanic.
Bruce Ismay, Reeder und Erbauer der Titanic.
Jack Phillips und Harold Bride, Funker auf der Titanic.
Wallace Hartley und seine Band.
John Jacob Astor, einer der reichsten Männer der Welt, und seine deutlich jüngere Ehefrau Madeleine.
Isidor Straus, Inhaber des Kaufhauses Macys in New York, und seine Ehefrau Ida.
'Drachin', Sekretärin von Herr Thaler, Lilys früherer Chef
(Kursiv:wird durch Ihre Angaben ersetzt)
Leseprobe
„Du bist mir etwas schuldig.“
Alexanders Augen glitzerten trunken von Champagner, aber auch von dem Gefühl der Macht, die er über
Lily hatte. „Einen Kuss. Fürs Erste.“ Er lachte und erhob sich. Mit einer schnellen Bewegung stand er neben
Lily und zerrte sie aus dem Stuhl. Ganz nah brachte er sein Gesicht an ihres und starrte ihr in die Augen.
„Wenn es mehr nicht ist.“
Lily bemühte sich, gelassen zu klingen und sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie
Alexanders Ausführungen getroffen hatten. Wie konnte es nur geschehen, dass ein dummer Kinderstreich sie verfolgte und ihr ganzes Leben zu ruinieren drohte? Was war ihr Gegenüber nur für ein Mensch, dass er seinen Groll so lange in sich bewahrt und einen derart ekelhaften Racheplan ausgeheckt hatte?
Lily befeuchtete die trockenen Lippen mit der Zunge. Sonst wäre sie kaum in der Lage gewesen, ihm zu antworten. „Einen Kuss gewähre ich dir gern.“ Sie schluckte. Obwohl sie die Worte betont leichthin ausgesprochen hatte, stieg bei der Vorstellung,
Alexander küssen zu müssen, ein Ekelgefühl in ihr auf. Stell dich nicht so an!, redete sie sich zu. Auf der Bühne hast du ebenfalls unangenehme Männer geküsst und dem Publikum vorgespielt, dass du sie lieben würdest. Stell dir einfach vor, dass du hier ein Stück aufführst: Die Rache des Ungeküssten. Trotz der unangenehmen Lage, in der sie sich befand, musste
Lily kichern.
Alexander kniff die Augen zusammen. „Damals hätte mir ein Kuss gereicht, heute musst du mehr zahlen“, zischte er. Ihr Lachen schien ihn noch mehr gereizt zu haben, und er stieß sie von sich.
Lily biss sich auf die Unterlippe und ärgerte sich über ihre Unbedachtheit.
„
Sofie und du, ihr…“
Alexander ließ den Satz unvollendet, da ein seltsames Geräusch ertönte, das
Lily und ihn gleichermaßen innehalten ließ. Ein Schaben oder Kratzen, als ob eine riesige Katze Einlass forderte. Etwas prasselte auf das Deck, und ein leichtes Schwanken schüttelte das Schiff.
„Was war das?“
Lily lauschte, doch das Geräusch war verstummt. Beinahe, als wäre es nur eine Ausgeburt ihrer überhitzten Fantasie gewesen. „Hast du das auch gehört?“
Alexander antwortete nicht, sondern eilte – leicht schwankend – zum Bullauge und starrte angestrengt hinaus.
Lily sah, wie er erbleichte und sich mit der Hand an die Kehle griff. Angst, nein, nackte Panik malte sich auf seinem Gesicht ab. Sein Mund stand offen, und er schien nichts anderes mehr wahrzunehmen als das, was sich vor dem winzigen runden Fenster abspielte.
Lily sprang auf, lief ebenfalls zum Bullauge und drängte sich neben
Alexander, seiner Gegenwart unangenehm bewusst. Der Anblick, der sich ihr bot, war so bizarr, dass sie zweimal blinzelte und sich in den Arm kniff, weil sie glaubte zu träumen.
Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Direkt vor dem Bullauge zog ein Eisberg vorbei, langsam und majestätisch. Im Licht der Sterne wirkte er strahlendweiß. Wunderschön und doch bedrohlich. Wie konnte das sein? Hatte der Kapitän nicht gestern davon gesprochen, dass die Titanic die südliche Route eingeschlagen hatte, um Eisbergen zu entgehen? Aber sie träumte nicht. Schließlich sah
Alexander ebenso erschüttert und ungläubig wie
Lily aus dem Bullauge.
„Was… Was hat das zu bedeuten?“, flüsterte er, immer noch bleich vor Schreck. Jetzt erinnerte er
Lily wieder an den kleinen Jungen, dem
Sofie und sie einen gedankenlosen Streich gespielt hatten. „Ein Eisberg. Ein verdammter Eisberg.“
„Unser Schiff…“
Lily schluckte, als sie eins und eins zusammenzählte. Es gab nur eine Erklärung. Eine Erklärung, die sie lieber nicht kennen wollte. „Die Titanic… Sie… Sie hat wohl den Eisberg gestreift. Aber wir sind ja unsinkbar. Wir müssen uns keine Sorgen machen.“
„Ich brauche etwas zu trinken.“
Alexander drehte sich brüsk um und stolperte zum Tisch. Schwer ließ er sich in den Sessel fallen. Die Hand, mit der er nach dem Glas griff, zitterte. „Etwas Stärkeres. Gib mir den Whiskey aus der Bar.“
Lily wollte aufbegehren, dem Mann sagen, dass sie nicht seine Bedienstete war, aber dann zuckte sie mit den Schultern.
Alexander wirkte so aufgewühlt, dass sie ihm den Whiskey nicht verweigern wollte. Mit zwei Schritten gelangte sie zur Bar, nahm zwei Kristallgläser heraus und suchte nach dem Getränk. Zu ihrer Überraschung zitterten auch ihre Hände. Der Schreck über den Eisberg saß tiefer, als sie es sich eingestanden hatte. Sie goss den bernsteinfarbenen Whiskey in die beiden Gläser und trug diese zum Tisch.
„Bitte.“
Lilys Stimme klang tonlos. Sie trank einen großen Schluck Whiskey, um ihre Nerven zu beruhigen. Ein Eisberg. Sicher, ein gewaltiger Eisberg, aber eben nur ein Eisberg. Gefrorenes Wasser. Das hatte keine Chance gegen den besten Stahl, gegen das sicherste und modernste Schiff der Welt, sagte sie sich. Beim Abendessen am Kapitänstisch war die Sicherheit der Titanic ein Thema gewesen.
Roderick Nordman hatte dem Kapitän ein Loch in den Bauch gefragt, bis
Dolly Havers ihn gestoppt hatte. Und trotzdem.
Lily beschlich ein ungutes Gefühl. Sie wollte von kundiger Stelle erfahren, was geschehen war und mit welchen Konsequenzen sie rechnen musste. „Lass uns auf Deck gehen und herausfinden, ob etwas passiert ist.“
„Nein!“
Alexander hatte das Glas in einem Zug geleert. Seine Wangen glühten wie im Fieber, und in seinen Augen glänzte wieder der Zorn, den die Angst nur kurzzeitig verdrängt hatte. „Du bleibst hier. Ich bin noch nicht mit dir fertig.“
„Aber ich mit dir!“
Lily wunderte sich selbst, dass sie auf einmal den Mut aufbrachte, sich ihm entgegenzustellen. Vielleicht, weil es ihr so lächerlich erschien, einen Kindheitsgroll über Jahre, nein, über Jahrzehnte mit sich zu tragen und sein ganzes Leben nur auf Rache und Vergeltung auszurichten. Wie viel Schönes im Leben musste
Alexander übersehen haben, weil er nichts anderes als seine Wut genährt hatte. „Ich gehe jetzt. Es tut mir wirklich leid, was
Sofie und ich damals getan haben. Es war gemein und gedankenlos. Aber nichts rechtfertigt dein Handeln. Nichts kann entschuldigen, was du mir angetan hast.“ Sie stand auf und ging zur Tür. Ganz ruhig und gelassen. Nein,
Alexander von Drachstetten würde sie nicht mehr einschüchtern.
Lily warf ihm einen letzten Blick zu. Wie er dasaß, inmitten der Pracht der Luxussuite, erinnerte er sie immer noch an einen kleinen Jungen, der niemals zufrieden sein und immer andere für sein Unglück verantwortlich machen würde.
Dass
Alexander plötzlich aufsprang, sie am Oberarm packte und von der Tür wegriss, überraschte sie, und es gelang ihr nur knapp, ihren Kopf beim Fallen zu schützen. Hart schlug sie auf dem Boden der Kabine auf. Selbst der dickflorige Teppich bremste ihren Fall nur wenig.
Lily stieß sich den Ellenbogen am Tisch und gab einen Schmerzenslaut von sich.
„Du gehst erst, wenn ich mit dir fertig bin.“
Alexander stand über ihr, die Hände zu Fäusten geballt und zum Schlag erhoben.
Lily erschrak. Wie hatte sie so dumm sein können? Sie war sich so gewiss gewesen, dass er nur ein Verehrer war, den sie mit einem freundlichen Lächeln und wohlgesetzten Worten würde vertrösten können. Der Mann jedoch, in dessen Kabine sie sich leichtsinnig begeben hatte, wirkte eher wie ein Wahnsinniger. Jemand, der vernünftigen Worten nicht mehr zugänglich war.
Lily schluckte trocken. Der Schmerz in ihrem Ellenbogen zeigte ihr nur zu deutlich, dass sie schnell handeln musste, wollte sie nicht ein übles Schicksal erleiden.
„Steh auf!“
Alexander hielt ihr eine Hand entgegen. Sein Gesicht war immer noch rot angelaufen und von Wut verzerrt. „Na los, wird’s bald.“
Lily schüttelte den Kopf und schlug seine Hand weg. Mühsam stützte sie sich auf dem Boden ab und zog sich an einem Stuhl hoch. Ein stechender Schmerz durchzog ihren linken Fuß. Vorsichtig setzte sie ihren Fuß auf den Boden und versuchte, ihn zu belasten. Der Schmerz blieb, aber immerhin knickte das Bein unter ihr nicht weg. Es schien nichts gebrochen zu sein. „Lassen Sie mich gehen!“ Bewusst benutzte
Lily die Distanz schaffende förmliche Anrede, um ihn in seine Schranken zu weisen und ihm deutlich zu machen, dass sie keine Freunde waren, denn mit Freundlichkeit würde sie hier nicht weiterkommen. Es musste ihr gelingen, dem Mann Angst einzujagen, damit er sie endlich freigab. „Sofie weiß, wo ich bin. Sie wird den Kapitän benachrichtigen, wenn ich nicht bald zurückkehre.“
„Keine Sorge.“
Alexander kam näher und umklammerte
Lilys Oberarm. Sie verzog das Gesicht vor Schmerzen, gab aber keinen Laut von sich. „Du wirst irgendwann gehen dürfen. Aber wann, das bestimme ich. Setz dich!“ Er schubste
Lily in Richtung Tisch.
Sie kam mit dem linken Fuß auf und zischte vor Schmerz. Mit Glück gelang es ihr, eine Stuhllehne zu ergreifen, an der sie sich abstützen konnte. Vorsichtig bemüht, den schmerzenden Fuß nicht zu belasten, zog sie sich an den Stuhl heran und ließ sich auf den Sitz fallen. Mit stoischer Miene griff sie nach einem Kristallglas und goss sich Wasser aus der Karaffe ein. Leise klirrten die Eiswürfel und erinnerten
Lily an den Eisberg, den sie in ihrer Angst vor
Alexander beinahe vergessen hatte. Besaß der Mann nicht genug Verstand, um seine Rache zurückzustellen und erst einmal herauszufinden, ob Gefahr drohte?
Anscheinend nicht.
Alexander war zur Kommode gegangen und wühlte darin herum.
Zu gern hätte
Lily gewusst, was er suchte, aber sie wollte ihm nicht den Gefallen tun und sich neugierig nach ihm umdrehen. Stur hielt sie ihm den Rücken zugewandt und sah geradeaus. „Wie soll es jetzt weitergehen?“, fragte sie mit hochmütiger Miene. Nur nicht zeigen, dass sie sich fürchtete oder Schmerzen hatte. Sich in eine Rolle begeben und die spielen, bis der Abend endete. Die Rolle einer Dame aus gutem Haus, die sich eines unliebsamen Verehrers zu erwehren wusste. „Wie lange wollen Sie die Scharade noch fortführen?“
„Du hast keine Fragen zu stellen.“
Alexander hatte sich
Lily gegenüber gesetzt und ein weiteres Glas Champagner eingeschenkt. Er hob das Glas in einer zuprostenden Geste und stürzte es schnell herunter.
Lily überlegte, ob sie ihm nicht nachschenken sollte. Wenn er weiter so schnell und so viel trank, würde er bald nicht mehr stehen können. Aber sie fürchtete die Zeit, bis er endlich volltrunken wäre. Schon jetzt ließen seine Manieren zu wünschen übrig, und er wirkte so, als ob er kurz davor stünde, alle Hemmungen zu verlieren.
„Ich bestimme über dich. Hast du das immer noch nicht begriffen?“
Lily schluckte die Bemerkung, die ihr auf der Zunge brannte, herunter. Es wäre nicht klug, den angetrunkenen
Alexander zu reizen.
Lily überlegte fieberhaft hin und her, wie sie am klügsten und schnellsten und unbeschadet aus der Kabine entkommen könnte. Warum kam kein Steward, um das Geschirr abzuräumen?
Ein plötzlicher Ruck ging durch das Schiff und ließ
Lily aufspringen, was ihr geplagter Fuß mit einem erneuten Schmerzensstich quittierte. Noch ein Eisberg?
„Was war das jetzt schon wieder?“, rief
Alexander. Auch er erhob sich und lief erneut zum Bullauge. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er hinaus. „Zu sehen ist nichts.“
„Die Maschinen haben gestoppt. Hören Sie doch.“
Lily versuchte, den Mann zu beruhigen, obwohl auch sie selbst die Angst erneut in sich hochsteigen fühlte. Es konnte nur einen Grund geben, warum das schwimmende Hotel plötzlich die Fahrt aufgab. Nur ihre Bühnenerfahrung half
Lily dabei, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie musste für
Alexander und sich selbst denken, musste die Kluge sein und versuchen, den Mann zur Vernunft zu bringen. „Wir werden sicher gleich erfahren, was hier geschehen ist. Lassen Sie uns wenigstens auf den Korridor gehen. Vielleicht weiß dort jemand Bescheid.“
„Der Eisberg. Es war der verdammte Eisberg“, sagte
Alexander mehr zu sich selbst als zu
Lily, sodass sie sich eine Antwort sparte. Er wandte sich vom Bullauge ab, holte die Flasche Whiskey und setzte sich wieder an den Tisch. „Willst du auch?“ Er hielt
Lily ein Glas hin und goss Whiskey ein, ohne ihre Antwort abzuwarten.
Sie nahm ihm das Kristall aus der Hand, führte es an den Mund ohne zu trinken und stellte es auf dem Tisch ab.
Alexander hingegen hatte seinen Whiskey bereits heruntergestürzt und servierte sich den nächsten.
Lily musterte ihn aufmerksam. Lange würde er sich nicht mehr aufrecht halten können. Champagner und Whiskey müssten doch bald Wirkung zeigen!
Ein Klopfen an der Tür ließ den Mann zusammenfahren und gab
Lily Hoffnung. Wer immer auch draußen stand, würde ihr sicher gegen
Alexander beistehen können. Sie sah zu Boden, damit
Alexander ihr Lächeln nicht bemerkte.
„Was ist?“
Alexander sprach mit schleppender Stimme und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Immer wieder irrte sein Blick von der Tür zum Bullauge und zurück. Er wirkte unschlüssig. „Was soll die Störung? Wissen Sie nicht, wie spät es ist?“
Automatisch ging
Lilys Blick zur großen Uhr über dem Kamin. Kurz vor Mitternacht. Wollte der Abend denn gar kein Ende nehmen? Aber in einem hatte
Alexander recht: Wer war so spät noch auf und klopfte an die Tür eines Erste-Klasse-Passagiers?
„Herr
von Drachstetten?“
Lily erkannte die Stimme von
Felix Glasen, und ihr Herz tat einen Sprung. So nahe war ihr die Flucht bisher noch nicht gewesen. Eilig überlegte sie, ob sie den Steward um Hilfe bitten konnte. Sicher würde
Felix ihr gegen
Alexander beistehen, aber um welchen Preis? Was drohte einem Steward, der einen Passagier angriff? Nein, hiermit musste sie allein fertig werden. Sie hatte sich die Suppe eingebrockt und musste sie auslöffeln. Außerdem würde es sicher nicht mehr lange dauern, bis ihr Feind zu betrunken wäre, um
Lily noch weiter festhalten zu können.
„Herr
von Drachstetten?“ Dieses Mal klang die Stimme des Stewards drängender.
Felix schien zu lauschen, um dann erneut mit der Faust gegen das Holz zu hämmern. Nun bekam es
Lily mit der Angst zu tun. Was war nur geschehen, dass der Steward sich so sehr vergaß? „Bitte öffnen Sie!“
„Wehe, du sagst ein Wort.“
Alexander wechselte einen Blick mit
Lily. Ein gemeines Lächeln glitt über sein Gesicht. Er griff in die Tasche seines Anzugs und zog einen Revolver hervor. „Bleib ruhig, und niemandem geschieht etwas.“
Lily erbleichte. Ihr wurde übel und sie fürchtete, dass sie gleich das Essen von sich geben würde. Das konnte er nicht ernst meinen. Selbst ein Wahnsinniger würde sie nicht wegen etwas töten, das vor so vielen Jahren geschehen war. Wegen eines dummen Kinderstreichs. Aber war
Alexander überhaupt noch zurechnungsfähig?
„Ich komme ja schon.“ Er steckte die Waffe weg und erhob sich. Der Champagner, dem er reichlich zugesprochen hatte, hatte sein Gesicht rot anlaufen lassen und ließ die Worte verschwommen klingen. Mit etwas Schlagseite ging er zur Tür. „Du bleibst sitzen. Kein Wort, oder…“
Lily nickte.
Alexander musste die Drohung nicht beenden. Gedanken rasten durch ihren Kopf. Was konnte der Steward nur wollen? Ob
Sofie ihn um Hilfe gebeten hatte? Oder hatte es etwas mit dem Eisberg zu tun und damit, dass die Maschinen der Titanic gestoppt hatten? Gab es eine Möglichkeit,
Felix vor der Waffe zu warnen? Sollte sie es wagen,
Alexander anzugreifen, und hoffen, dass es ihr gelänge, ihm die Waffe zu entreißen? Bevor
Lily eine Entscheidung getroffen hatte, war
Alexander bereits an der Tür, steckte den Schlüssel ins Schloss und riss die Tür auf.
„Herr
von Drachstetten, bitte entschuldigen Sie die Störung.“
Felix nickte höflich, aber er wirkte aufgewühlter und beunruhigter, als
Lily ihn bisher gesehen hatte. Als der Blick des Stewards auf sie fiel, stutzte er kurz, wahrte aber die Höflichkeit. „Fräulein
Braun, ich muss Sie beide bitten, mir an Deck zu folgen.“
„Was? Warum?“
Alexander baute sich vor dem Steward auf, sodass
Lily Felix nicht mehr sehen und ihm auch keine Zeichen geben konnte. Gefangen. Sie war gefangen. Und es war ihre Schuld, weil sie sich sicher gewesen war, dass sie gegen
Alexander würde bestehen können. „Sie haben mir nichts zu sagen. Sie sind doch nur Personal. Ich entscheide selbst, ob ich meine Kabine verlasse oder nicht.“
„Bitte, Herr
von Drachstetten.“ Der Steward bemühte sich sichtlich um Ruhe und Freundlichkeit. Aber
Lilys geschultes Ohr konnte seiner Stimme anhören, dass er kurz vor einem Ausbruch stand. „Der Kapitän bittet alle Passagiere an Deck. Es… Es gab einen Zwischenfall mit einem Eisberg.“
„Den Eisberg habe ich gesehen. Nur zu gut. Einen Zwischenfall? Was soll das denn heißen?“
Alexander wackelte irritiert mit dem Kopf. Er schien Schwierigkeiten zu haben, den Worten des Stewards einen Sinn zu geben. „Haben wir das Eis etwa gerammt? Das Schiff ist doch unsinkbar, oder?“
„Entschuldigen Sie. Mehr weiß ich auch nicht.“
Lily konnte hören, dass der Steward den Atem laut ausstieß und mit den Fingern an den Türrahmen trommelte. Er trat einen Schritt zur Seite, damit
Lily ihn wieder sehen konnte. „Bitte begeben Sie sich an Deck. Ich muss nun weiter, um die anderen Passagiere zu informieren.“
„Was sollen wir an Deck? Solange Sie mir nicht mehr sagen, bleibe ich, wo ich bin.“
Alexander beharrte auf seiner Meinung wie ein verzogenes kleines Kind.
Plötzlich erinnerte sich
Lily wieder. In aller Deutlichkeit.
Sofie und sie waren nicht bösartig gewesen und hatten sich einen armen Jungen als Opfer gesucht. Nein, sie hatten einem grausamen Kind eine Lektion erteilen wollen. Einem Jungen, der einen halbblinden alten Hund mit einem Stock geschlagen und der versucht hatte, Kätzchen zu ertränken.
Lily erinnerte sich daran, dass
Alexander kleineren Kindern aufgelauert und sie in Angst und Schrecken versetzt hatte. Wie hatte sie das nur vergessen können?
Lily atmete auf. Sie musste sich nicht mit einem schlechten Gewissen plagen. Nein,
Alexander hatte damals verdient, was
Sofie und sie ihm zugedacht hatten. Es war eher zu wenig für den Jungen gewesen, der sich so gemein gegenüber Hilfloseren und Schwächeren verhalten hatte. So wie er den jungen Steward beim Tanzabend heruntergeputzt hatte und jetzt
Felix schlecht behandelte.
„Bitte ziehen Sie sich warm an. Draußen ist es bitterkalt.“
Felix ging nicht auf die Einwände des anderen Manns ein, sondern sah
Lily direkt an. Er lächelte ihr beruhigend zu. Aber etwas in seinem Blick ließ
Lily aufmerksam werden. „Und ziehen Sie bitte die Schwimmwesten an. Nur als reine Vorsichtsmaßnahme.“ Er nickte ihr zu und eilte weiter, klopfte an die gegenüberliegende Kabine und wiederholte dort seinen Spruch.
Lily spürte Panik in sich aufsteigen. Rettungswesten, hatte der Steward gesagt. Vielleicht ist es ja nur eine Übung, versuchte sie sich zu beruhigen. Aber nein, niemals würde Kapitän Smith es wagen, seine Erste-Klasse-Passagiere nachts aus den Betten zu zerren, wenn es dafür nicht einen triftigen Grund gab. Sie waren wirklich und wahrhaftig in Gefahr.